2006, „Eine Million Kredit ist ganz normal, sagt mein Großvater“ (Co-Schnitt)

Regie/Schnitt: Gabriele Mathes, AT 2006, 35 mm/Betacam SP, Farbe, 22 min

Normalität in den Siebziger Jahren: Die audiovisuelle Erinnerungswirtschaft mit ihren Kohorten an Privatfilmern produziert massenhaft Bilder des wirtschaftlichen Aufschwungs und des vermeintlichen kleinbürgerlichen Familienglücks: Urlaub am Meer, KFZ-Ausflüge in die Alpen in Dirndl und Krachlederner, zuhause gibt´s jetzt den Einbauschrank mit Farbfernseher. Meistens filmt der Papa. Es hätte doch alles so schön sein können, doch die Sache geht schief: Der vom Großvater geerbte Tischlereibetrieb schreibt rote Zahlen, die Konkurrenz durch Massenproduktion versetzt der Firma den Todesstoß. Die Familie gerät in die Krise, und schließlich wird der Vater unter der Last zusammenbrechen. Die Normalität ist nicht zu ertragen.

Gabriele Mathes´ Found-Footage-Arbeit erzählt nur auf den ersten Blick eine tragisch endende Familiengeschichte. Während eine emotionslose Sprecherin ein biografisch gefärbtes, beklemmendes Sprachbild von hoher fotografischer Präzision entwirft, fassen die Super-8-Bilder ein irreduzibles Außen, das nicht allein in der literarischen Beschreibung subjektiver Erinnerungsbilder aufgeht: Fragmente für eine öffentliche Mikro-Wirtschaftsgeschichte. In der tangentialen Montage kontaminieren Bilder und Sprache einander, Andrea Sodomkas Soundscape treibt uns schmerzhaft leise in den audiovisuellen Riss in der Zeit. Im Unterschied zu so vielen ironisierenden Home-Movie-Samplern nimmt Mathes ihr Material als Symptom ernst. Was zeigt sich, was lässt die Nichtsichtbarkeit erahnen, was ist verloren, was gerettet? Und vielleicht hat sich in den ausgewaschenen, beschädigten Affektbildern etwas erhalten, wohin die Sprache, die Trauerarbeit, nicht gelangen konnte; vielleicht ein Moment des Verdachts, vielleicht ein Moment des Glücks. Doch womöglich ist das Glück an einer Stelle aufgeblitzt, die niemand geplant und mit der niemand gerechnet hatte.

(Michael Palm)

Der Film erzählt, wie sich das Ringen meines Vaters um das Überleben des vom Großvater gegründeten Betriebs, der nicht zu verhindernde Konkurs seiner Möbelfirma, auf meine Familie ausgewirkt hat.

(Gabriele Mathes)

Hinter dem Wald wird es hell. Mein Vater sitzt im Wagen und erinnert sich. Er ist zweiundzwanzig. Er ist mit dem Motorrad gekommen. Er steht vor dem Haus, in dem meine Mutter wohnt. Er raucht eine Zigarette. Er raucht mit der rechten Hand, seine Linke ist in Gips gepackt. Meine Mutter schaut den Gips an und fragt: Kannst du fahren?“ Mein Vater dämpft die Zigarette aus. Mein Vater gibt Gas. Er fährt 14 Stunden lang. In Rimini halten sie an. Am Straßenrand stehen Palmen. Meine Mutter legt ihre Arme um meinen Vater und küsst ihn.

(Auszug aus dem Drehbuch)

Vertrieb: Sixpackfilm